zorn, wut & drei frauen, die dich lieben

Ich starre in das Nichts meines Geschlechts. Ich starre in meine Scham. Ich sehe mich beim panischen Versuch die blutverschmierte Unterhose in einem Haufen weißer Wäsche zu verstecken aber meine Eltern wissen es. Ich habe keine Antwort auf die Frage, warum ich mich nicht getraut hatte, etwas zu sagen. Warum ich mich nicht getraut hatte, auf meine erste Periode aufmerksam zu machen, mir Hilfe zu holen, Beistand, Fürsorge. Ob ich wüsste, was es bedeute: Regelblutung, Zyklus, Fruchtbarkeit. Ich kann mich nur daran erinnern, wie sehr ich mich schämte, wie sehr ich mich ekelte, wie sehr ich mich hasste, wie sehr ich niemandem zur Lust fallen wollte, wie sehr ich wünschte, zu verschwinden, wie sehr ich wünschte, nie existiert zu haben. Ich starrte auf meine Hände, während mir die Funktionsweise von Damenhygieneprodukten gezeigt wurde. […] full text down by berlin

sarah berger
foto by laura hoffmann

zorn, wut & drei frauen, die dich lieben

FOLGEN

[…] Irgendwann laufen wir ja doch auf die Straße. Irgendwann sagt er ja doch, willst du etwas frühstücken und meint eigentlich, dass er etwas essen muss, dass er aufstehen muss, dass sein Leben weitergeht und ich folge ihm, stelle mich mit ihm unter die Dusche, obgleich ich keine frische Unterwäsche dabei habe, sowieso den Slip von gestern Nacht tragen muss, was bringt es dann, mich von seinem Geruch zu befreien, wie Sprenkel einer saftigen Orange liegt er glitzernd auf meinem Körper, warum soll ich ihn abwaschen, anstatt ihn noch eine Weile mit mir durch die Stadt zu tragen, als kleine Trophäe nach Hause zu tragen. Also stehen wir gemeinsam unter der Dusche und kämpfen um einen Platz unter dem schmalen Strahl warmen Wassers. Um den Sommerregen gestern mussten wir nicht kämpfen. Der kam geradewegs laut donnernd auf uns nieder, versuchte immer wieder mit großer Kraft uns von der Straße zu drängen – ich hatte darauf bestanden, dass wir rausgehen, dass wir durch den Regen laufen, das war meine Bedingung für den Abend.[…]

FOLGEN, erschienen am 19.11.2018 bei SuKuLTur

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FOLGEN

Berührungsangst

ENDLICH ÜBERALL AUF DIESER WELT ZUHAUSE, hallt es von den Reklame-Screens in jeder glatten Fläche: DER ÖFFENTLICHE RAUM IST PRIVAT! Das Versprechen an eine neue Gesellschaftsordnung ist ihnen eingeschrieben, diesen seltsamen bunten Kapseln. Eigentlich sind sie nicht bunt, sondern erhältlich in vielen verschiedenen Farben, vermutlich sogar in allen Farben. Erhältlich in allen Farben, in matt oder glänzend, mit weicher, gummiartiger Oberfläche, die zum Erstaunen der ersten Testpersonen in Instagram-Stories immer wieder als „bemerkenswert stabil“ oder „seltsam weich und hart zugleich“ beschrieben wird. Die Kapseln, getauft auf den Namen Ime, sind aus einem speziellen, polymorphen synthetischen Material und ausgestattet mit smarter Biotechnologie. Immer wenn die Werbefigur Biotechnologie sagt, lacht eine*r de*r vorbeilaufenden Passant*innen – zu sehr erinnert der Begriff an andere, längst ausgestorbene Begriffe wie Biofood oder Biodeutsch, die nur noch aus dem Geschichtsunterricht überhaupt bekannt waren und die menschliche Vergangenheit als etwas ausserordentlich Lächerliches entlarvten.

Es ging dann alles recht schnell. Nachdem die ersten Influencer*innen über Ime berichteten (wie aus Zufall tauchten plötzlich Bilder und Videos auf von Handelsmessen und Computerspielmesse und Entwicklermessen), gab es schon die ersten Testläufe im Livestream.

Ime wird Freihaus geliefert: ein schmal eingerollter, 1,5 cm dicker Zylinder mit einem Durchmesser von ca. 30 cm, einem angenehm weichen Griff und glatter Oberfläche mit leichtem Schimmer. Es bedarf keiner Voreinstellungen, Ime kann der Verpackung ent- und augenblicklich in Betrieb genommen werden. Zur Erstbetriebnahme wird Ime ausgerollt auf der Brust de*r zukünftigen Nutzer*in glattgestrichen (dies kann im Stehen oder Liegen erfolgen). Sobald Ime den Körper in Gänze berührt, verbindet es sich mit der Nutzer*in und startet augenblicklich das Programm. In der Standardeinstellung nimmt Ime eine leicht ovale oder runde Form an, die den Körper mit einem Abstand von ca. 20 cm komplett umgibt. Die Transparenz und Durchsicht beträgt nach außen 80 %, nach innen ist keine Einsicht möglich. Di*e Nutzer*in kann sich frei bewegen, denn Ime bewegt sich automatisch mit und schafft Raum in der Umgebung. Von hier aus kann die Nutzer*in eigene Einstellung vornehmen. Ime kann ganz nah am Körper getragen werden oder den eigenen Raum um bis zu einem Meter erweitern. Aus dem Inneren heraus steuert di*e Nutzer*in, wie viel von der Außenwelt eindringen darf und wie viel von Innen nach Außen dringen kann. Im Inneren von Ime kann Musik gehört werden, Ime liest Bücher oder Onlineartikel vor und bei ruhendem Körper können die inneren Screens für ziemlich alles genutzt werden.

ENDLICH ÜBERALL AUF DIESER WELT ZUHAUSE, hallt es eindringlich von den spiegelglatten Reklame-Screens: DER ÖFFENTLICHE RAUM IST PRIVAT! Das Versprechen an eine neue Gesellschaftsordnung ist ihnen eingeschrieben, diesen seltsamen bunten Kapseln. Die ganz eigene Bubble nennen wir es und lachen über uns. Wir tippen Nachrichten an unsere Freunde in die Screens, wir klicken uns durch Artikel und neue Videos, wir basteln Gifs aus alten Filmen, wir lesen uns gegenseitig vor und schicken Sticker, die Umarmungen andeuten, wir klicken uns durch Fotos und Blogtexte, wir verfolgen gegenseitig unsere Leben, während wir in der U-Bahn sitzen auf dem Weg zur Arbeit. Wir liegen im Park und lesen Bücher und simulieren Sonnenschein, denn Ime schütz effektiv vor Umwelteinflüssen. Es spielt keine Rolle mehr, ob es draußen zu laut, zu hell, zu kalt oder zu hektisch ist, ob viele Menschen einen Platz beleben oder man ganz alleine unterwegs ist – mit Ime entscheidest du zu jeder Situation, ob du partizipierst oder nicht. Du bist nie wieder in der unangenehmen Lage, dich preisgeben zu müssen an den öffentlichen Raum.

Es ist schön, immer einen eigenen Raum zu haben. Es ist schön, in seiner eigenen Welt zu leben.

Berührungsangst

ES IST HALT SO (HEIDEGGERHÜTTEN)

Ich starre in den Schwarzwald.

Eine knappe Stunde hatten wir mit dem Auto gebraucht, um vom Parkplatz des Philosophischen Seminars zur Hütte zu gelangen, ausreichend Zeit für Prof. Dr. Andreas Herrmann, mir weitschweifig den Wertherschen Fügungsbruch zu erläutern, der darin bestehe, das eigene Unvermögen gegenüber der Welt in ein Unvermögen der Welt gegenüber einem umzudeuten:

Werther, der kleine Junge, warf ich ein, aber Prof. Herrmann schien mich nicht gehört zu haben, denn er fuhr in ungebremster Emphase fort.

Das Genie Werther überlasse sich spontanen Eingebungen, gebe sich jeder noch so kleinen Gefühlsregung hin, weil es sich der Natur verpflichtet fühle, nicht wahr, und dann erreiche es aber nichts, also nicht das höchste Glück, das Glück des von Natur aus begnadeten Genies, sondern liefere sich dem Chaos der Natur aus, laufe Gefahr, davon verschlungen zu werden, sich darin gänzlich aufzulösen, willkommen also im Wahnsinn – er lachte donnernd –, nicht wahr, Werther drohe eben immer schon der Wahnsinn, diese Bedrohung werde nur deutlicher, je einsamer und je unverstandener er sich fühlt. Die Beschäftigung mit Werther erinnere ihn auch daran, dass er ja schon lange erwäge, ein Buch über »Genie« zu schreiben. Oder über »das Geniale«.

Ich starrte in den Schwarzwald, nickte den vorbeiziehenden Weidewiesen zu, den dunklen Tannen und Fachwerkhäusern. Er würde den Besprechungstermin gerne in die Hütte verlegen, auch mir würde der Kontakt mit der Natur sicherlich gut tun, hatte Prof. Herrmann befunden. Hätte ich allerdings gewusst, dass dieses »erste Sondierungstreffen« ohne meine Kommilitonen Jens, Diddi und Francesco stattfinden würde, wäre ich niemals mitgefahren, würde ich jetzt nicht in den Schwarzwald starren.

Es ist halt so, hallte es durch meinen Kopf, immer wieder. Es ist halt so. Es ist halt so. Es ist halt so. Ich hatte diesen Satz in den letzten Monaten so häufig gehört, ihn in Chats gelesen, das eine oder andere Mal auch selbst ausgesprochen, dass mir seine Bedeutung abhanden gekommen war. Es ist halt so. Im beharrlichen Repetieren hatte sich der Satz in seine Bestandteile aufgelöst, auseinander driftende Wörter, klaffende Distanzen, Leeren, in die man stolperte.

Es ist halt so. Tristan hatte es gesagt.

Es ist halt so. Jens hatte es gesagt

Es ist halt so. Hayo hatte es gesagt.

Es ist halt so. Es ist halt so. Es ist halt so. Jens, Diddi und Francesco hätten es jetzt gesagt, wären sie dagewesen.

Es hatten so viele Menschen diesen Satz gesagt, und so viele Menschen würden ihn, ohne zu zögern, noch sagen – er hätte wahr sein können.

Dabei vertrat doch gerade Prof. Herrmann vor allen anderen die These eines inhärent solipsistischen Realitätsverständnisses. In seinen Seminaren und seinen Vorlesungen, aber auch in seinen der Popphilosophie zuzurechnenden Abhandlungen über Realität als Sinnfelder oder Ich-Projektionen – es waren viele, und sie waren alle in respektierten Verlagen erschienen – wurde er nicht müde, für eine realistische Ontologie oder einen ontologischen Realismus einzutreten. Auch eher private Zusammentreffen, wie etwa die gemeinsamen Essen nach außerordentlichen Vorträgen, die Kaffeepausen zwischen den Seminaren, die Mittagessen in der Mensa und die allabendlichen gemütlichen Runden in der Kneipe Zum verrückten Studenten ließ er nicht verstreichen, ohne darüber zu dozieren.

Einige Wochen zuvor hatte ich in seinem Büro gesessen und ein an der Tür angebrachtes Poster angestarrt, das den slowenischen Philosophen Žižek als eine Art Superman karikierte, während ich versuchte, zu verstehen, wie mehrere Auszüge meiner Arbeit über die Unterscheidung von Subjekt-Ich und Objekt-Ich (Urteil und Sein) im Verhältnis zum inszenierten Charakter der Sexualität zwischen Akt und Pornographie (Note 1,3) in eine seiner Veröffentlichungen gelangen konnten.

Als ich damals meiner Verwunderung Ausdruck verliehen hatte, es konnte sich ja nur um einen Fehler handeln, ein versehentliches Kopieren, das zuvor niemandem aufgefallen war, hörte ich den Satz zum ersten Mal. Es ist halt so. Auch hörte ich zum ersten Mal, dass man dieses offene Geheimnis weniger als konkrete Aneignung, denn als Ehrenbezeugung auffassen müsse. Es wäre ja sowieso ein Irrglaube, betonte Prof. Herrmann, dass wir uns gegenseitig wirklich und wahrhaftig verstehen könnten. Nein! Wir wären ja auch nur als Schatten unserer wechselseitigen Reflexionen überhaupt seiend, wobei »seiend« auch hier natürlich wieder ein problematischer Begriff wäre. Ich verstünde nur offensichtlich noch nicht, inwiefern seine Aneignung keine eigentliche Kopie meiner Arbeit wäre, sondern als eine Art erhabener Interpretation zu verstehen wäre.

Da war eine leichte Verachtung in Tristans zustimmendem Nicken, als er »Glückwunsch« sagte und auch im Unterton, als er hinzufügte, dass meine Einbindung ins Team der Neuausgabe des Philosophischen Wörterbuchs ihn nicht überrasche und ich mich schon mal auf eine Einladung in die Heideggerhütte freuen dürfe. Die Mitwirkung von Jens, Diddi und Francesco kommentierte Tristan nicht.

Es ist halt so. Die Abgeschiedenheit der Hütte und der Satz in meinem Kopf lösen eine schmerzliche Empfindung aus. Prof. Herrmann, »Andreas«, bittet mich, nicht so traurig zu schauen, es wäre doch ganz wunderbar hier, all diese Ruhe, ja, Stille sogar, nur durchsetzt von den Lauten der Natur; endlich könne er sich wieder denken hören. Ich solle einfach ein paar Mal tief durchatmen und mich auf die inspirierende Kraft der Natur einlassen. Andreas sagt auch, das wäre schon alles in Ordnung, er meint das Klappsofa als einzige Schlafmöglichkeit für uns beide, er meint die knapp 20 Quadratmeter große Hütte, er meint die Abgeschiedenheit.

Die Enge der Hütte, die Abwesenheit meiner Kommilitonen beim »ersten Sondierungstreffen«, dass mein Dozent seine Arbeitsmaterialien im Büro liegengelassen hat, wirklich alles unterstreicht gerade in aufblitzender Erkenntnis den »kreativen Prozess«, mit dem der Corpus des Philosophischen Wörterbuchs notwendigerweise auf den aktuellen Stand der Diskurse zu bringen ist. Der Schmerz der Abgeschiedenheit verdoppelt sich beim wiederholten erfolglosen Versuch, ein Netz zu finden – WhatsApp, Facebook, Twitter sind hier ebenso abwesend wie Jens, Diddi und Francesco. In der Heideggerhütte ist kein digitales Selbstgespräch vorgesehen. Es ist halt so.

Andreas schlägt vor, ich solle mich auf dem Klappsofa entspannen, denn wenn er die Ohnmacht einer jeden Naturerfahrung durch das Kaleidoskop synthetischer Bewusstseinserweiterung betrachte, würde dies seinen analytischen Blick außerordentlich schärfen. Er lobt jetzt nacheinander seine Entscheidung, gerade mich ins Team geholt zu haben und im Vorfeld unserer kleinen Reise eine stattliche Menge Kokain besorgt zu haben, hach, endlich, das Expandieren des Selbst über die enge körperliche Grenze hinweg, ein Aufbäumen, ein sich durchdringendes Ich, langsames Driften in die Zeitlosigkeit. Ob sie mir nicht auch seltsam vorkäme: diese Jetzt-Zeit. So banal mit ihren Regeln und Gesetzen. Nirgends dürfe noch geraucht werden, überall seien Kinder mit ihren auf die Zukunft gedrehten Aktivitätskorsetten, alles, wirklich alles sei entweder schon gedacht worden oder wenigstens bereits geschehen … Gegenwart in Stillstand geronnen – in diesem Moment findet seine mit der hektischen Gestikulation eines großen Geistes beschäftigte Hand endlich ihren expandierenden Platz auf meinem linken Oberschenkel. Ich gehe in die Leere zwischen den Wörtern.

Nichts war philosophisch je so deutlich zu erkennen gewesen, in allen Schattierungen und Lichtreflexionen vorgezeichnet, wie Prof. Dr. Andreas Hermanns klägliches Bemühen, nein, das mühevolle Halten, Heben, Schütteln, Streicheln seines in Schlaffheit erstarrten Schwanzes (der offensichtlich analytisch weiter war) … nichts regte sich. Die Koksschwere zog ihn in den Abgrund. Er hätte mir so gerne ins Gesicht gespritzt, jammerte mein Dozent jetzt.

Jens würde nicht fragen, Diddi würde nicht fragen, und auch Francesco würde nicht fragen, warum nur ihre Namen im Paratext der neuen Ausgabe des Philosophischen Wörterbuchs erwähnt wurden. Frau Schütter vom Studierendenwerk würde fragen, warum ich im letzten Semester keine Seminare besucht hätte, denn mit zwei fehlenden Hauptseminarscheinen konnte man kein zusätzliches Semester Bafög beziehen. Ich würde sagen, dass ich die Seminare zwar besucht, aber keine Hausarbeiten geschrieben hätte. Es ist halt so, würde ich schließen und mit den Schultern zucken.

ES IST HALT SO (HEIDEGGERHÜTTEN)

Come find me if you want to reflect in company

»Ich hab dich gefunden«, flüsterte er mir ins Ohr. Er hatte sich durch die Menschenmenge hindurch von der gegenüberliegenden Seite des Raums bis an die Bar und an meine Seite gedrängt; wurde von der tanzenden Menge immer wieder gegen meinen Körper gedrückt. Rushhour. Noch saß ich ruhig an der Bar. Ich wendete mich ihm nicht zu. Ich runzelte die Stirn, presste die Lippen zusammen, zuckte mit den Schultern. Wieder und wieder lehnte er sich gegen mein Ohr, ich spürte seinen warmen Atem, die Bewegung seiner Lippen. Erst bei der vierten oder fünften Wiederholung verstand ich: »Ich hab dich gefunden.« – »Okay«, sagte ich. Zuckte wieder nur mit den Schultern, ließ meinen Blick über den Tresen schweifen. Julien war mit Bardingen beschäftigt.

»Was hab ich gewonnen«, fragte er. Er hatte mich einige Sekunden lang unentwegt angestarrt. Erneut zog ich die Augenbrauen zusammen. Mein verständnisloser Blick, das leichte Gefühl von Gestört-sein. Obgleich er nicht unattraktiv war. Schlank, einen guten Kopf größer als ich, weißes Unterhemd, Hosenträger, halblange blonde Haare zu einem Dutt zusammengebunden, ein rotblonder Siebentagebart. Er saß schon seit einer Weile gegenüber der Tanzfläche auf einer der Boxen. Er starrte mich immer wieder ganz unverblümt durch die Menge hindurch an. Er lächelte, sobald sich unsere Blicke kreuzten. Ich schaute weg.

»Was habe ich gewonnen«, fragte er erneut. »Ich verstehe nicht«, entgegnete ich ihm, ohne mich ihm zuzuwenden. Ich sprach die Worte schnell aus und drehte meinen Kopf sogleich zurück in die Betrachtung des Tresens. Julien war buzy. Auch Adam konnte ich nirgendwo sehen oder seinen Freund (Name vergessen). »Was habe ich gewonnen«, fragte er nun zum dritten Mal, lächelte dabei verschmitzt und schien mit jeder Wiederholung der Frage näher an mich heran zu treten. Da ich schon an der Grenze meiner Ausweichbarkeit angelangt war (überall um mich herum tanzende Menschen), verschränkte ich die Arme vor der Brust und sagte erneut: »Ja, aber ich verstehe nicht!«

»Bestellst du mir ein Bier«, fragte er. Wieder lächelnd. Wieder den Blick nicht von mir abwendend. Julien musste in diesem Moment zwangsläufig gedacht haben, ich hätte Interesse an einem Barflirt. Wissend zwinkerte er mir zu, als er das Bier auf die Theke stellte, ohne meinen genervten Blick zu bemerken. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, was ich gewonnen habe«, sagte der Typ, nach dem er sein Bier an mein Glas geschlagen hatte. »Ich verstehe nicht, was du damit meinst.« – »Na, ich hab dich gefunden«, wiederholte er sich. »Kennen wir uns«, fragte ich. Ich betrachtete sein Gesicht, ich suchte in meinem Kopf eine Erinnerung: die leicht zusammenstehenden, kleinen Augen, die vollen Lippen, das verschmitzte Lächeln – aber nein, mir kam keine Situation in den Sinn, in der wir uns bereits begegnet sein könnten. Im Gegensatz zu mir, genoß er unsere unterschiedlichen Wissenszustände: Seine Haltung war zugewandt, aufrecht, herausfordernd. Er zuckte mit den Schultern. Lächelte. Stieß erneut mit seiner Flasche gegen mein Glas, als müssten mich all diese kleinen Gesten an etwas erinnern.

»Joey«, stellte er sich vor. »Sarah«, entgegnete ich ihm. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Woher kennen wir uns denn«, fragte ich. »Ok Cupid«, antwortete er. Ich zuckte die Schultern, ich hielt Ausschau nach Julien, Adam oder dem anderen Typ. Irgendeine Ablenkung, ein Anker. Ich konnte mich nicht an ihn erinnert. »Okay?« – »Ja, Joey«, sagte er, lächelte. Ich erkannte ihn nicht. »Ich kenne dich nicht«, sagte ich. Er lächelte. Ich drehte mich in den Raum. Noch immer war die Tanzfläche sehr voll, immer wieder drängte es gegen meinen Rücken. Immer wieder sorgte der eine oder andere Schulterstoß dafür, dass Joey sich gegen mich lehnen musste.

»Come finde me«, sagte er. »Mich nervt das, sag mir doch einfach, woher wir uns kennen«, entgegnete ich ihm. Ich konnte mich nicht mehr von ihm abwenden. In meinem Rücken hatte sich ein größerer Typ an die Theke gedrängt. Joey lächelte wieder und suchte eindringlich nach meinem Blick. »Come find me if you want to reflect in company, hatte ich geschrieben«, flüsterte er mir ins Ohr. »Bei Ok Cupid«, fragte ich. »Ja, Come find me if you want to reflect in company und du hast geantwortet, dass du gerne Verstecken spielst.« – »Das – war – heute«, sagte ich, mich langsam an die Nachrichten erinnernd, wie ich vor reichlichen Stunden, es muss am Vormittag gewesen sein, genervt vom Rumgeplänkel Ok Cupid beendet hatte, eine Runde laufen gegangen war und später nicht mehr auf die Idee kam, mein Profil zu checken.

»Wir haben uns noch nicht getroffen«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

»Yeah, but I’ve found you.«

»I don’t get it. Who are you?«

»Joey, from OkC!«

»Ja, okay, aber wir haben heute morgen ein bisschen gechattet, ich verstehe nicht, hast du mich zufällig hier gesehen und erkannt oder was?«

»Naja, nicht zufällig.«

Ich verdrehte die Augen. Ich war genervt.

»Instagram«, sagte er, »du hast ein Bild von dem Schriftzug gepostet, den habe ich erkannt. Du hast dich nicht gut versteckt.«

Er lachte, stieß erneut mit seiner Flasche an mein Glas.

»Woher kennst du meinen Instagram-Account? Ich hab nichts mit OkC verlinkt.«

Er lächelte nur verschmitzt: »Was habe ich gewonnen?«

»Woher kennst du mein Instagram?«

»Kannst du nicht verlieren?«

»Ich will verstehen, wer du bist und warum du mich anquatschst.«

»Auf deinem Profil steht, du möchtest nicht über deine Kunst sprechen. Ich bin eben sehr gut im Versteck-spielen. Das ist meine Kunst. Meine Leidenschaft quasi. Willst du noch was trinken?«

Er zeigte auf mein leeres Glas aber ich schüttelte den Kopf.

Bei jedem Versuch, mit Julien Blickkontakt aufzunehmen, um ihm zu signalisieren, dass ich Hilfe brauchte, lächelte er mir nur hastig zu oder zwinkerte. Er nahm wohl an, ich mochte die Gesellschaft von Joey.

»Also du hast in meinen Instagram-Stories gesehen, dass ich hier bin und bist dann auch hier her gekommen«, fragte ich.

»Ja, ich hab dich gefunden. Ich dachte, das ist der Sinn von Verstecken-spielen.«

»Aber ich hab das nur so geschrieben. Ich fand deine Nachricht lächerlich: Come finde me … sorry, aber das ist albern, ich hab einen Witz gemacht über Versteck-spielen, dass Dating doch genau das Gegenteil davon sein sollte.«

»Naja, jetzt habe ich dich gefunden.« er zuckte süffisant mit den Schultern.

»Ja, aber – wir hätten uns auch einfach verabreden können, ich verstehe nicht, was das soll.«

»Deine Profilbilder«, sagte er.

»Was ist damit?«

»Die habe ich bei Google Image Search eingespielt und so habe ich all deine Accounts gefunden.«

»Okay, das ist creepy. Ich will dieses Gespräch nicht.«

»Das ist aber unhöflich von dir. Du schuldest mir was, lass uns zusammen was trinken.«

Er winkte Julien heran. Er deutete auf mein leeres Glas. Ich schüttelte den Kopf: »Wir hätten uns einfach auf einen Drink treffen können aber meine Accounts ausfindig zu machen und mich in eine Bar verfolgen ist mir zu krass. Lass mich in Ruhe!«

»Ach komm, ich habe mir so viel Mühe gegeben, dich zu finden.«

»Nein!«

»Ich hätte dich nicht so zickig eingeschätzt. Du wirkst auf Instagram so locken & open minded, hab ich mich wohl in dir getäuscht. Schade.«

Ich versuchte, mich von ihm weg und in den Raum zu drehen, aber noch immer war ich von tanzenden Menschen umgeben, weder Adam noch sein Freund waren zu sehen. Julien hatte mir zwar einen Drink hingestellt, gleichzeitig deutete er immer wieder auf den Ausgang. Wahrscheinlich wollte er mir zu verstehen geben, dass ich zum Türsteher gehen könnte, wenn ich ein Problem hätte.

Joey machte keine Anstalten zu gehen. Ich drehte mich in den Raum, drückte mich vom Barhocker hinein in die Menschenmenge in Richtung Ausgang. Plötzlich spürte ich, dass sich eine Hand um mein Handgelenk wickelte. Beim Versuch, meinen Arm weg zu ziehen, wurde Joeys Griff nur fester. Statt von ihm loszukommen, zog er mich näher an sich heran: »Was ist denn? Willst du nach Hause gehen, nach Moabit in deine Hinterhauswohnug, dritter Stock, Wilhelmshavenerstr. 41, linke Seite oder in deine Lieblingsbar, Emserstr. 23 oder Weserstraße 14 oder Skalitzer Str. 41, wo willst du hin gehen, in dein Studio in der Wrangelstr. 17, was willst du machen, sag mal, was willst du jetzt tun, wo willst du jetzt hin, ich hab gewonnen, du – schuldest – mir – was!«

Come find me if you want to reflect in company

follow me into the hole to enter dystopia wonderland

plötzlich sprang Pauline auf & sagte:

wir sind nicht nur in der zeit stehengeblieben, Jeanne, wir sind auch z u r üc k g e g a n g e n, wir sind in diese hütte abgestiegen wie in eine zeitkapsel, haben uns vom festland getrennt, sind in diese einsame insel gezogen, in uns Jeanne, wir sind einfach in uns e i n g e z o g e n, im zenit der individualität begriffen, & haben der restlichen welt den rücken gekehrt, wir haben sie verlassen, wir tun so, als würde sie nicht existieren, als wäre die scheiße nicht ein weiteres mal passiert, nein, uns ist ja gar nichts passiert, uns ging es irgendwie gut, wir hatten geld, nicht unbedingt viel aber ausreichend um im restaurant zu essen, um drinks zu trinken, um uns gras zu kaufen, ab und zu koks und mdma, um in clubs zu gehen und tagsüber ins café, um uns bücher zu kaufen & streamingdienste zu abonnieren, wir hatten auch zeit, zeit ins kino zu gehen, im sommer mit dem tretboot über den kanal zu fahren, auf den balkonen unserer freunde zu sitzen, bier zu trinken & über die heikle politische lage zu diskutieren, wir diskutierten ja wirklich viel, wir sprachen darüber, wir schrieben auf der suche nach verbündeten gesellschaftskritische tweets & ausführliche facebook-kommentare über unsere politischen positionen, über unsere wahrnehmungen der gegenwart, äusserten unsere meinungen zum geschehen, unsere ängste und hoffnungen, wir stritten uns auch, mit freunden genauso wie mit fremden, im internet, überall aber all das, das sein auf der einen seite und das wollen auf der anderen, diese seltsame verständnislosigkeit: wie kann es sein, dass uns das wieder & wieder passiert, dass wir keine solidargemeinschaft sind, dass wir, uns selbst ins neoliberale korsette gezwängt, in das äußerste menschliche grauen blicken, ins totale versagen des miteinanders, wie können wir da nicht als wahnsinnige durch die straßen rennend uns die seele aus dem leib schreien, nein, wir halten es nicht aus, wir halten uns nicht aus, also träumen wir vom inneren exil, wir träumen vom wahren einer facette zur tarnung der inneren rebellion, wir lassen unseren widerstand nur partiell entweichen, kontrolliert auf friedlichen demonstrationen, mit der ankündigung, im öffentlichen raum aufmerksamer zu sein für solidarische akte, im bemühen um mehr umsichtigkeit, aber nichts von alle dem heilte die wunde, die frühen anzeichen nicht gesehen zu haben, längst zu spät zu sein, die maschinerie war am laufen, alles wiederholte sich, wir haben versagt, Jeanne, wir haben versagt, wir sind teil dieser zivilisierten menschheit, die sich selbst so sehr hasst, dass sie sich immer und immer wieder zerfrisst & an den gebeinen, die im hals stecken bleiben, elendig erstickt, das sind wir Jeanne, widerlich & erbärmlich, wie wir sind, haben wir uns in dieses domizil versteckt, unsere kleine zeitmaschine, in der wir sitzen & bücher lesen, unsere gedanken aufschreiben, unsere philosophien austauschen & unsere künste, es ist hübsch & gemütlich, niemand stört uns in unserem verdrängen, endlich haben wir unsere ruhe von all dem, endlich sind wir frei davon, frei, Jeanne, endlich sind wir frei.

follow me into the hole to enter dystopia wonderland

Ein Tag am See

Es sind diese Hampelmänner- und Zirkusclown-Momente der Vorstellung, man hatte sich ja gerade erst durch die Menge in die vorderste Reihe gedrängt, gekämpft hatte man für diesen aller vordersten Platz direkt an der Manege, entgegen allem bettlägrigem Phlegmatismus, entgegen all dieser unsichtbaren Gewichte – die Freunde, die anrufen und wirklich wissen wollen, wie es dir geht, die sich Mühe gemacht haben, die dir eine Freude machen wollen, die an deiner Wohnungstür stehen und die 20 Tüten voller Pfand- und Glasflaschen wegbringen wollen, die sich neben dich legen, dir die Unterarminnenseiten streicheln, weil das deine Lieblingsstelle ist, weil das die einzige Stelle deines Körpers ist, an der du noch etwas spürst, dein Mund ist dir in die Unterarme gerutscht, dein Mund, deine Augen, deine Flügel, alles ist dir in die Unterarme gerutscht und um irgendwie mit dir in Kontakt treten zu können, streicheln sie deine Unterarminnenseite und erzählen dir Geschichten aus dem Leben, diesem Zaubertrick, denkst du aber bleibst still, stumm, du verziehst den Mund zu einem Lächeln, du willst sie nicht in Sorge versetzen, deine Freunde, du bleibst einfach liegen, lässt dir die Unterarminnenseite streicheln, lässt es über dich ergehen, wartest, dass es endlich wieder ruhig wird, dass es nachts wird, Dunkelheit, endlich darfst du allein sein, endlich fragt niemand mehr, wie es dir geht, niemand mehr kommt, um deine Wohnung aufzuräumen, du musst nur lange genug leben, du musst sie nur überleben, dann wird es ruhig um dich, endlich, dann kannst du für immer schlafen – also hast du dich aus der Horizontalen gequält, an den Rand der Manege hast du dich gequält, starrst jetzt auf Wasser, dunkelgrünes Wasser, ein paar Enten schwimmen auf dich zu, sie sind auf der Suche nach Brotkrummen ja, auf der Suche nach einem Weg vielleicht, wer weiß schon, was in dem Kopf einer Ente vorgeht oder in dem Kopf der Frau, die gerade mit blanker Brust zart in das Ohr ihres Liebhabers säuselt:

What the hell am I doing here?

I don’t belong here

… schon seit einer Weile zupft er an der Gitarre, hatte sie erst ein paar Minuten lang stimmen müssen, während sie noch Betty angerufen hatte und Lydia, die leider nicht zum spontan anberaumten Dinner in die Klatsche kommen kann, ja genau, dieses kleine süße Mexikanische Lokal in der Raumerstraße, er würde wohl etwas länger bleiben, sie hätte ihn jetzt unter Vertrag genommen, ja, sie lacht, sie schüttelt sich, sie äussert ihr Bedauern, er sei ja Mexikaner und er solle sich wohlfühlen ja … go up with your voice, sagt er und singt es ihr zum sechsten oder siebten Mal vor, immer wieder singt er ihr die richtige Harmonie vor:

And I wish I was special

You’re so fuckin‘ special

… die ungelenke Neugierde einer dunkelbraunen Deutschen Dogge durchbricht die Harmonik, bahnt sich ihren Weg über die gelbe Decke, gerade noch so retten sie den frisch zubereiteten Salat vor der brachialen Kraft:

– Der spielt, sorry, sagt der Hundebesitzer, sich gerade noch durch das Gestrüpp kämpfen.

– Messi! Messi hier, hier her! Messi komm, ruft er seine Verlegenheit zu verbergen, doch der Hund ist bereits jaulend vor Freude ins Wasser gegangen.

Sein Date hatte die falschen Schuhe angezogen. Sie hatte nicht damit gerechnet, an den See gefahren zu werden. Sie dachte, das erste Date verlief ganz gut, wir waren Essen bei einem schicken Koreaner und hatten ein paar Drinks im Haus am See, er hatte alles bezahlt, selbst die Taxifahrt hatte er bezahlt. Angekommen an ihrer Wohnungstür sagte sie, sie könne ihn heute Abend nicht mit herein bitten aber sie würde sich auf das nächste Mal sehr freuen.

Er schlug dann einen Ausflug vor, wollte das Ziel aber nicht verraten. Stattdessen fuhr er mit einem Drive Now Cabriolet vor. Begleitet von einem breiten Grinsten offenbarte er ihr lediglich, dass sie Badesachen mit nehmen müsse. Erst als sie im Auto saß, bemerkte sie die große, hellbraune Deutsche Dogge auf der Rückbank:

– Das ist Messi, ich dachte, ihr könnt euch mal kennen lernen, sagte er.

Jetzt sitzen sie auf kleinen weißen Handtüchern platziert zwischen dicken Baumwurzeln und Gestrüpp. Der hochgewachsene aber junge Hund springt immer wieder ins Wasser, um dann in fast horizontaler Lage des Körpers einem gelben Ball hinterher zu schwimmen.

– Sollen wir uns auch bisschen abkühlen, fragt er.

Sie nickt. Sie hatte den schönen Bikini angezogen, den, der etwas zu eng sitzt, der in mattem Beige optimal zum dunklen Grün des Wassers passte. Würden sie erst nebeneinander schwimmen, gäbe es mit Sicherheit die eine oder andere Möglichkeit, sich aus Versehen zu berühren.

Er ist schon tiefer ins Wasser eingedrungen, er wirft zum zweiten oder dritten Mal den gelben Ball, das beflissene Bemühen dieses Tieres gegen die Widrigkeiten des Wassers amüsieren ihn. Es erfüllte ihn mit einer gewissen Zufriedenheit, hatte er doch einen Hund, der sich wirklich bemühte, einen kämpferischen Hund – da waren sie sich sehr ähnlich, groß und kräftig gebaut, sich durchsetzend, der Typ mit dem netten Gesicht, so nannten man ihn, ja, er hatte dieses nette Gesicht, dieses sympathische Gesicht, dem man nichts abschlagen konnte aber innerlich war er hart, zielstrebig und sie war gut darin, die zwei drei Kilo zu viel unter ihren schicken Klamotten zu verstecken. Aus diesem Grund traf er sich mit seinen Dates gerne am See oder im Schwimmbad oder im Liquidrom.

Messi hatte seinen Job gut gemacht. Er hatte den gelben Ball erfolgreich abgegeben. Als er gerade dazu ansetzte, den Ball ein weiteres Mal zu werfen, sprang auch sie endlich mit Oberkörper voran ins Wasser – selbst den Kopf tauchte sie ein – und begab sich in ein Wettschwimmen mit Messi um den gelben Ball. Er lachte. Es dauerte sehr lange 15 Sekunden. Sie hatte es geschafft. Sie war als erste beim gelben Ball angekommen.

Während sie neben Messi dem gelben Ball entgegen schwamm, fragte sie sich, ob es noch ein schlimmeres Date hätte geben können. Vielleicht Fahrrad fahren. Darin war sie besonders schlecht und bei einem anderen Date, einige Monate zuvor, wollte ihr Begleiter unbedingt mit dem Rad den Kanal entlang fahren und nach 200 oder 300 Meter schlitterte sie bereits durch den Schotter und riss sich zarte Naben in den rechten Oberschenkel. Daraufhin schrieb sie ihm nicht mehr zurück.

Er reagiert nicht, als sie ihm erzählte, dass Messi seinen schweren Kopf gegen den ihren gedrückt hatte, um an den Ball zu kommen, dass er seine Vorderbeine gegen ihre Schultern gedrückt hatte, dass er sie dabei in seiner unbeholfenen Art unter Wasser gedrückt hatte, dass sie nur schwer nach Luft schnappen konnte, dass sie sich gerade so aus diesem Gefecht befreien konnte. Er lachte:

– Ja, Messi ist ganz schön stark.

Obwohl er diesmal den Ball nicht geworfen hatte, war Messi schon wieder dabei, in die Mitte des Sees zu schwimmen.

I’ve no such misconceptions

But when you need me be assured I won’t be far away

er spielt noch immer Gitarre, während sie das Schlauchboot aufpumpt.

I did my best, it wasn’t much

I couldn’t feel, so I tried to touch

– Messi, ruft er, Messi jetzt komm, komm her!

Messi ist zwanzig oder dreißig Meter in den See geschwommen. Immer wieder ruft er ihn aber der Hund macht keine Anstalten zurück ans Ufer zu schwimmen. Verlegen dreht er sich zuerst zu den anderen Menschen dann zu ihr um:

– Sonst ist er nicht so, eigentlich hört er ganz gut, ich weiß nicht, was heute mit ihm los M E S S I K O M M J E T Z T M E S S I

Die Eindeutigkeit des Lebens ausserhalb, denkst du, ziehst die Kopfhörer über die Ohren. Du siehst noch, wie sie das Schlauchboot in die Mitte des Sees paddelt, während er Gitarre spielt:

Fall out of love again

Your dreams all end

Dir entgeht der ertrinkende Hund.

Ein Tag am See

Sein Zimmer für mich allein

„Dann wache ich in dieser fremden Wohnung auf und das Erste, was ich tue, ist, die Bücher aus dem Regal zu ziehen, nicht weil mich die Bücher interessieren, sondern weil ich wissen will, was der Typ dahinter versteckt. „Ich stehe nicht so auf One-Night-Stands“, hat er gesagt und „Schon okay, bleib.“ Auf dem Küchentisch, der zugleich Schreib- und Esstisch ist, liegt freundlich drapiert ein Handtuch – es ist frisch, ich habe daran gerochen –, daneben stehen die French Press und die Kaffeedose. „Du kannst meine Zahnbürste benutzen, wenn dir das nicht unangenehm ist, aber wir haben uns ja auch geküsst“, hat er gesagt. Drängend strömt der Geruch von abgestandenem Sex aus dem Schlafzimmer, Reste abgetragener Hautpartikel … Riecht es so oder ich? Ist das mein Geruch? Sie ähneln sich sehr, die Gerüche, egal wo ich aufwache. Ich lehne am französischen Balkon. Wer gießt die Pflanzen, wenn er verreist ist? Die Asche meiner Zigarette landet die neun oder zehn Stockwerke tiefer – ich stelle mir das Ganze als Kamerafahrt vor und vielleicht mit Musik.“

Auszug aus: Sarah Berger: Sein Zimmer für mich allein (Shortstory, erhältlich im FROHMANN Verlag)

Zimmer4

Sein Zimmer für mich allein

In den Museen liegen Trümmer von dir

Wir lagen also im Unkraut auf dem Rücken und die Sonne ging gerade besonders orangefarben unter, besonders klar war das Licht und ich sagte, es sei doch seltsam, dass wir „ich sehe dich“ sagen, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, dass wir die Anderen ganz und gar wahrnehmen, also dass wir zumindest davon überzeugt sind, dabei ist das Sehen von allen Sinnen derjenige, der die meiste Distanz lässt. Der Wind zog gerade so über deinen Körper, ist es dir auch aufgefallen, dass ich einen Schatten von Mohn spürte, als würde dieser leichte Wind gerade zu durch ein Feld wehen aber orangener Mohn oder gelber, nicht roter schaukelt zart durch meine Sinne, direkt in meinen Kopf schaukelte es – hier hätte ich nach deiner Hand greifen sollen oder zumindest hätte ich dich fragen können, ob ich danach greifen darf, wo doch schon die für den Augenblick der Begegnung zusammengeschlossenen Fahrräder wirkten wie ein Versprecher oder eine Drohung. Ich fragte dich, warum du dich von Formaten einschränken lässt, 30×45 oder 60×90, ich schaue mir einfach das Bild an und schneide mir das Format zurecht, von welchem das Bild spricht aber du hast eine ganz andere Sprache, du siehst ein anderes Gesicht, wenn du durch die Kamera blickst, alles sieht ganz anders aus für dich als für mich.

Ich esse Nektarinen wie ich Aschenbecher anstarre zwischen Faszination und Ekel aber ich bin Teil dieses Mensch-Seins, erzähle ich dir und du lachst. Ja, ich habe mich in den Worten vergriffen und den Faden verloren, immer wieder also reden wir über einige meiner letzten Dates, ein paar von den Kriegsgeschichten hatte ich mitgebracht, dass ich mir niemals meine Finger in ein Stück Obst gerieben habe als währe es meine zwei Schamlippen, mein Kitzler und du wundertest dich: das seien die Deutschen Bezeichnungen für das weibliche Geschlechtsorgan … ich nickte, ich sagte, es gibt keinen positiven, keinen schönen Ausdruck für meine Freiheit. Ich habe mich nie davor geziert, mich selbst zu berühren. Ob du dich einfach auf die Couch gegenüber setzen könntest, mir entgegen, hatte ich dich gefragt, ob du dir einfach einen runter holen kannst, während du mir beim Masturbieren zuschaust. Ich wollte einfach nur alles sehen. Wir saßen dann eine Weile so da, betrachteten uns.

Das Alleinsein heute wie ein schlechter Geschmack im Mund beim Erwachen; ob ich eine Person sei, die man vermisse, hattest du gefragt oder wolltest es vielleicht und ich hatte diesen albernen Reflex im Mund, mich an mir zu verschlucken. Dann beginnt wieder das Zucken durch meinen ganzen Körper und ich frage mich, ob ich mich erkennen würde in einer dieser Geschichten, die vergangene Liebhaber über mich erzählen, würde mir ein Fremder eine dieser Geschichten erzählen.

In den Museen liegen Trümmer von dir