Berührungsangst

ENDLICH ÜBERALL AUF DIESER WELT ZUHAUSE, hallt es von den Reklame-Screens in jeder glatten Fläche: DER ÖFFENTLICHE RAUM IST PRIVAT! Das Versprechen an eine neue Gesellschaftsordnung ist ihnen eingeschrieben, diesen seltsamen bunten Kapseln. Eigentlich sind sie nicht bunt, sondern erhältlich in vielen verschiedenen Farben, vermutlich sogar in allen Farben. Erhältlich in allen Farben, in matt oder glänzend, mit weicher, gummiartiger Oberfläche, die zum Erstaunen der ersten Testpersonen in Instagram-Stories immer wieder als „bemerkenswert stabil“ oder „seltsam weich und hart zugleich“ beschrieben wird. Die Kapseln, getauft auf den Namen Ime, sind aus einem speziellen, polymorphen synthetischen Material und ausgestattet mit smarter Biotechnologie. Immer wenn die Werbefigur Biotechnologie sagt, lacht eine*r de*r vorbeilaufenden Passant*innen – zu sehr erinnert der Begriff an andere, längst ausgestorbene Begriffe wie Biofood oder Biodeutsch, die nur noch aus dem Geschichtsunterricht überhaupt bekannt waren und die menschliche Vergangenheit als etwas ausserordentlich Lächerliches entlarvten.

Es ging dann alles recht schnell. Nachdem die ersten Influencer*innen über Ime berichteten (wie aus Zufall tauchten plötzlich Bilder und Videos auf von Handelsmessen und Computerspielmesse und Entwicklermessen), gab es schon die ersten Testläufe im Livestream.

Ime wird Freihaus geliefert: ein schmal eingerollter, 1,5 cm dicker Zylinder mit einem Durchmesser von ca. 30 cm, einem angenehm weichen Griff und glatter Oberfläche mit leichtem Schimmer. Es bedarf keiner Voreinstellungen, Ime kann der Verpackung ent- und augenblicklich in Betrieb genommen werden. Zur Erstbetriebnahme wird Ime ausgerollt auf der Brust de*r zukünftigen Nutzer*in glattgestrichen (dies kann im Stehen oder Liegen erfolgen). Sobald Ime den Körper in Gänze berührt, verbindet es sich mit der Nutzer*in und startet augenblicklich das Programm. In der Standardeinstellung nimmt Ime eine leicht ovale oder runde Form an, die den Körper mit einem Abstand von ca. 20 cm komplett umgibt. Die Transparenz und Durchsicht beträgt nach außen 80 %, nach innen ist keine Einsicht möglich. Di*e Nutzer*in kann sich frei bewegen, denn Ime bewegt sich automatisch mit und schafft Raum in der Umgebung. Von hier aus kann die Nutzer*in eigene Einstellung vornehmen. Ime kann ganz nah am Körper getragen werden oder den eigenen Raum um bis zu einem Meter erweitern. Aus dem Inneren heraus steuert di*e Nutzer*in, wie viel von der Außenwelt eindringen darf und wie viel von Innen nach Außen dringen kann. Im Inneren von Ime kann Musik gehört werden, Ime liest Bücher oder Onlineartikel vor und bei ruhendem Körper können die inneren Screens für ziemlich alles genutzt werden.

ENDLICH ÜBERALL AUF DIESER WELT ZUHAUSE, hallt es eindringlich von den spiegelglatten Reklame-Screens: DER ÖFFENTLICHE RAUM IST PRIVAT! Das Versprechen an eine neue Gesellschaftsordnung ist ihnen eingeschrieben, diesen seltsamen bunten Kapseln. Die ganz eigene Bubble nennen wir es und lachen über uns. Wir tippen Nachrichten an unsere Freunde in die Screens, wir klicken uns durch Artikel und neue Videos, wir basteln Gifs aus alten Filmen, wir lesen uns gegenseitig vor und schicken Sticker, die Umarmungen andeuten, wir klicken uns durch Fotos und Blogtexte, wir verfolgen gegenseitig unsere Leben, während wir in der U-Bahn sitzen auf dem Weg zur Arbeit. Wir liegen im Park und lesen Bücher und simulieren Sonnenschein, denn Ime schütz effektiv vor Umwelteinflüssen. Es spielt keine Rolle mehr, ob es draußen zu laut, zu hell, zu kalt oder zu hektisch ist, ob viele Menschen einen Platz beleben oder man ganz alleine unterwegs ist – mit Ime entscheidest du zu jeder Situation, ob du partizipierst oder nicht. Du bist nie wieder in der unangenehmen Lage, dich preisgeben zu müssen an den öffentlichen Raum.

Es ist schön, immer einen eigenen Raum zu haben. Es ist schön, in seiner eigenen Welt zu leben.

Berührungsangst

ES IST HALT SO (HEIDEGGERHÜTTEN)

Ich starre in den Schwarzwald.

Eine knappe Stunde hatten wir mit dem Auto gebraucht, um vom Parkplatz des Philosophischen Seminars zur Hütte zu gelangen, ausreichend Zeit für Prof. Dr. Andreas Herrmann, mir weitschweifig den Wertherschen Fügungsbruch zu erläutern, der darin bestehe, das eigene Unvermögen gegenüber der Welt in ein Unvermögen der Welt gegenüber einem umzudeuten:

Werther, der kleine Junge, warf ich ein, aber Prof. Herrmann schien mich nicht gehört zu haben, denn er fuhr in ungebremster Emphase fort.

Das Genie Werther überlasse sich spontanen Eingebungen, gebe sich jeder noch so kleinen Gefühlsregung hin, weil es sich der Natur verpflichtet fühle, nicht wahr, und dann erreiche es aber nichts, also nicht das höchste Glück, das Glück des von Natur aus begnadeten Genies, sondern liefere sich dem Chaos der Natur aus, laufe Gefahr, davon verschlungen zu werden, sich darin gänzlich aufzulösen, willkommen also im Wahnsinn – er lachte donnernd –, nicht wahr, Werther drohe eben immer schon der Wahnsinn, diese Bedrohung werde nur deutlicher, je einsamer und je unverstandener er sich fühlt. Die Beschäftigung mit Werther erinnere ihn auch daran, dass er ja schon lange erwäge, ein Buch über »Genie« zu schreiben. Oder über »das Geniale«.

Ich starrte in den Schwarzwald, nickte den vorbeiziehenden Weidewiesen zu, den dunklen Tannen und Fachwerkhäusern. Er würde den Besprechungstermin gerne in die Hütte verlegen, auch mir würde der Kontakt mit der Natur sicherlich gut tun, hatte Prof. Herrmann befunden. Hätte ich allerdings gewusst, dass dieses »erste Sondierungstreffen« ohne meine Kommilitonen Jens, Diddi und Francesco stattfinden würde, wäre ich niemals mitgefahren, würde ich jetzt nicht in den Schwarzwald starren.

Es ist halt so, hallte es durch meinen Kopf, immer wieder. Es ist halt so. Es ist halt so. Es ist halt so. Ich hatte diesen Satz in den letzten Monaten so häufig gehört, ihn in Chats gelesen, das eine oder andere Mal auch selbst ausgesprochen, dass mir seine Bedeutung abhanden gekommen war. Es ist halt so. Im beharrlichen Repetieren hatte sich der Satz in seine Bestandteile aufgelöst, auseinander driftende Wörter, klaffende Distanzen, Leeren, in die man stolperte.

Es ist halt so. Tristan hatte es gesagt.

Es ist halt so. Jens hatte es gesagt

Es ist halt so. Hayo hatte es gesagt.

Es ist halt so. Es ist halt so. Es ist halt so. Jens, Diddi und Francesco hätten es jetzt gesagt, wären sie dagewesen.

Es hatten so viele Menschen diesen Satz gesagt, und so viele Menschen würden ihn, ohne zu zögern, noch sagen – er hätte wahr sein können.

Dabei vertrat doch gerade Prof. Herrmann vor allen anderen die These eines inhärent solipsistischen Realitätsverständnisses. In seinen Seminaren und seinen Vorlesungen, aber auch in seinen der Popphilosophie zuzurechnenden Abhandlungen über Realität als Sinnfelder oder Ich-Projektionen – es waren viele, und sie waren alle in respektierten Verlagen erschienen – wurde er nicht müde, für eine realistische Ontologie oder einen ontologischen Realismus einzutreten. Auch eher private Zusammentreffen, wie etwa die gemeinsamen Essen nach außerordentlichen Vorträgen, die Kaffeepausen zwischen den Seminaren, die Mittagessen in der Mensa und die allabendlichen gemütlichen Runden in der Kneipe Zum verrückten Studenten ließ er nicht verstreichen, ohne darüber zu dozieren.

Einige Wochen zuvor hatte ich in seinem Büro gesessen und ein an der Tür angebrachtes Poster angestarrt, das den slowenischen Philosophen Žižek als eine Art Superman karikierte, während ich versuchte, zu verstehen, wie mehrere Auszüge meiner Arbeit über die Unterscheidung von Subjekt-Ich und Objekt-Ich (Urteil und Sein) im Verhältnis zum inszenierten Charakter der Sexualität zwischen Akt und Pornographie (Note 1,3) in eine seiner Veröffentlichungen gelangen konnten.

Als ich damals meiner Verwunderung Ausdruck verliehen hatte, es konnte sich ja nur um einen Fehler handeln, ein versehentliches Kopieren, das zuvor niemandem aufgefallen war, hörte ich den Satz zum ersten Mal. Es ist halt so. Auch hörte ich zum ersten Mal, dass man dieses offene Geheimnis weniger als konkrete Aneignung, denn als Ehrenbezeugung auffassen müsse. Es wäre ja sowieso ein Irrglaube, betonte Prof. Herrmann, dass wir uns gegenseitig wirklich und wahrhaftig verstehen könnten. Nein! Wir wären ja auch nur als Schatten unserer wechselseitigen Reflexionen überhaupt seiend, wobei »seiend« auch hier natürlich wieder ein problematischer Begriff wäre. Ich verstünde nur offensichtlich noch nicht, inwiefern seine Aneignung keine eigentliche Kopie meiner Arbeit wäre, sondern als eine Art erhabener Interpretation zu verstehen wäre.

Da war eine leichte Verachtung in Tristans zustimmendem Nicken, als er »Glückwunsch« sagte und auch im Unterton, als er hinzufügte, dass meine Einbindung ins Team der Neuausgabe des Philosophischen Wörterbuchs ihn nicht überrasche und ich mich schon mal auf eine Einladung in die Heideggerhütte freuen dürfe. Die Mitwirkung von Jens, Diddi und Francesco kommentierte Tristan nicht.

Es ist halt so. Die Abgeschiedenheit der Hütte und der Satz in meinem Kopf lösen eine schmerzliche Empfindung aus. Prof. Herrmann, »Andreas«, bittet mich, nicht so traurig zu schauen, es wäre doch ganz wunderbar hier, all diese Ruhe, ja, Stille sogar, nur durchsetzt von den Lauten der Natur; endlich könne er sich wieder denken hören. Ich solle einfach ein paar Mal tief durchatmen und mich auf die inspirierende Kraft der Natur einlassen. Andreas sagt auch, das wäre schon alles in Ordnung, er meint das Klappsofa als einzige Schlafmöglichkeit für uns beide, er meint die knapp 20 Quadratmeter große Hütte, er meint die Abgeschiedenheit.

Die Enge der Hütte, die Abwesenheit meiner Kommilitonen beim »ersten Sondierungstreffen«, dass mein Dozent seine Arbeitsmaterialien im Büro liegengelassen hat, wirklich alles unterstreicht gerade in aufblitzender Erkenntnis den »kreativen Prozess«, mit dem der Corpus des Philosophischen Wörterbuchs notwendigerweise auf den aktuellen Stand der Diskurse zu bringen ist. Der Schmerz der Abgeschiedenheit verdoppelt sich beim wiederholten erfolglosen Versuch, ein Netz zu finden – WhatsApp, Facebook, Twitter sind hier ebenso abwesend wie Jens, Diddi und Francesco. In der Heideggerhütte ist kein digitales Selbstgespräch vorgesehen. Es ist halt so.

Andreas schlägt vor, ich solle mich auf dem Klappsofa entspannen, denn wenn er die Ohnmacht einer jeden Naturerfahrung durch das Kaleidoskop synthetischer Bewusstseinserweiterung betrachte, würde dies seinen analytischen Blick außerordentlich schärfen. Er lobt jetzt nacheinander seine Entscheidung, gerade mich ins Team geholt zu haben und im Vorfeld unserer kleinen Reise eine stattliche Menge Kokain besorgt zu haben, hach, endlich, das Expandieren des Selbst über die enge körperliche Grenze hinweg, ein Aufbäumen, ein sich durchdringendes Ich, langsames Driften in die Zeitlosigkeit. Ob sie mir nicht auch seltsam vorkäme: diese Jetzt-Zeit. So banal mit ihren Regeln und Gesetzen. Nirgends dürfe noch geraucht werden, überall seien Kinder mit ihren auf die Zukunft gedrehten Aktivitätskorsetten, alles, wirklich alles sei entweder schon gedacht worden oder wenigstens bereits geschehen … Gegenwart in Stillstand geronnen – in diesem Moment findet seine mit der hektischen Gestikulation eines großen Geistes beschäftigte Hand endlich ihren expandierenden Platz auf meinem linken Oberschenkel. Ich gehe in die Leere zwischen den Wörtern.

Nichts war philosophisch je so deutlich zu erkennen gewesen, in allen Schattierungen und Lichtreflexionen vorgezeichnet, wie Prof. Dr. Andreas Hermanns klägliches Bemühen, nein, das mühevolle Halten, Heben, Schütteln, Streicheln seines in Schlaffheit erstarrten Schwanzes (der offensichtlich analytisch weiter war) … nichts regte sich. Die Koksschwere zog ihn in den Abgrund. Er hätte mir so gerne ins Gesicht gespritzt, jammerte mein Dozent jetzt.

Jens würde nicht fragen, Diddi würde nicht fragen, und auch Francesco würde nicht fragen, warum nur ihre Namen im Paratext der neuen Ausgabe des Philosophischen Wörterbuchs erwähnt wurden. Frau Schütter vom Studierendenwerk würde fragen, warum ich im letzten Semester keine Seminare besucht hätte, denn mit zwei fehlenden Hauptseminarscheinen konnte man kein zusätzliches Semester Bafög beziehen. Ich würde sagen, dass ich die Seminare zwar besucht, aber keine Hausarbeiten geschrieben hätte. Es ist halt so, würde ich schließen und mit den Schultern zucken.

ES IST HALT SO (HEIDEGGERHÜTTEN)