Ich strauchle noch

„Seid ihr jetzt…zusammen?“ Noel wippte mit dem Bein. Ich verstehe die Frage nicht – also sie, sie verstehen die Frage nicht – niemand will sie verstehen. Es ist keine Frage – es ist wie eine Floskel, wie ein Mantra, dass man immer und immer wieder ausspricht, um eine Grenze zu ziehen – um einen Bereich abzustecken – um so zu tun, als hätte man etwas in den Händen, als hätte man etwas, als wäre man in irgendeiner Form bestimmt oder Definition oder Vorhersehung oder oder. „Ich verstehe das nicht…seid ihr…seid ihr jetzt zusammen?“ Norah war verwirrt. Und wenn Norah verwirrt ist, bildet sich auf der Stirn diese tiefe Furche zwischen den Augenbrauen – ihr ganzes Gesicht rutsch in eine harte Form, eine unaufmerksame Versteinerung. „Seid ihr jetzt…zusammen?“ Noel wippt mit dem Bein. Er sitzt da auf dem Schreibstichstuhl…wie auch immer, er sitzt da auf dem Schreibstichstuhl und sein Blick geht gegen sich, gegen die Hand ganz flach auf dem Oberschenkel – immer ein bisschen eingeknickt, immer ein bisschen in sich selbst gedrückt, sitzt er da – wie ein kleiner Junge – wie ein Kind. Norah murmelt nur noch irgendetwas, leise…in den Schal hinein. Ich musste gar nichts sagen, dachte Henry – ich hatte gar nichts gesagt, dachte er. Nichts. Und die Haare waren ein wenig wirr, ein wenig in alle Richtungen gezogen – ein wenig wirr. „Warum bist du niemals mit einer Frau zusammen?“ hatte Norah gefragt. Und Henry zuckte mit der Schulter. Und Noels Blick lag nur auf der Hand, flach auf den Oberschenkel gepresst – er hätte gerne aufgesehen aber er sah nichts, nur die Hand. Und Henry zuckte mit der Schulter. „Manchmal finde ich nur die Vorstellung, mit dieser einen Person zu schlafen, attraktiv – aber ich mache dann nichts. Ich habe kein Bedürfnis danach – glaube ich.“ Wie ist das mit den Bedürfnissen? Ich strauchle noch. „Wenn man einmal richtig geliebt hat, fühlt sich jede andere Liebe unwirklich an.“ sagte er. „Verstehst du? Wenn man einmal richtig geliebt hat…kann man dann überhaupt noch mal Lieben? Stellt man dann nicht fest…dass auch diese erste Liebe, also wenn man sich dann wieder verliebt, stellt man dann nicht fest, dass auch diese erste Liebe nur eine Lüge war…die ganze Intensität…ich habe einfach kein Bedürfnis danach.“ Wir waren den ganzen Weg gelaufen – in Turnschuhen – wir Idioten. In Turnschuhen durch den Schwarzwald – durch einen Schneesturm mitten im April und Norah grinste breit, als ich ihr die Geschichte erzählte. Sie hatte sich aufs Bett fallen lassen – wie immer. Sie hatte so etwas Deplatziertes, so etwas Einfältiges in ihrem Gesicht. Sie hatte nicht angerufen, sie hatte geklingelt, ohne vorher anzurufen – sie ruft immer an, kann ich vorbei kommen? Aber sie hatte nicht angerufen, sie hatte einfach nur geklingelt und sich dann aufs Bett fallen lassen. Ich hab dich vermisst, murmelte sie und grinste breit, als ich ihr von dem Schneesturm erzählte. Ich zeigte ihr meine Turnschuhe, in die ich mit dem Taschenmesser Rillen gebohrt hatte, um irgendwie Profil zu haben gegen den Schnee. Sie grinste. Sie nannte uns Idioten. Sie sagte, wir hätten vielleicht Glück gehabt oder so was und dass sie das ganze Wochenende über ein schlechtes Gefühl hatte. Sie wollte einen Film schauen – sie hatte ein paar DVDs dabei, sie wollte blauen Schimmer und ich…sie drehte sich ein paar Zigaretten…ich wollte ihr sagen: geh weg. Geh einfach. Was willst du von mir? Ich sagte nichts. Geh einfach, oder gehe rüber – in die andere Wohnung, legt dich aufs andere Bett, legt dich zu Noel und rede deine dummen Sprüche runter und verstrubbel dir die Haare, als würdest du es ganz ohne Absicht tun, weil du dann ein bisschen süß aussiehst – weil du das weißt – und dann gehst du dir in die Haare und nennst es kokett Nervosität aber deine Nervosität, dein dummes Gezitter und Gewippe und Rumgeheule ist nur Koketterie, nur Spiel um Anerkennung, um süß-sein mit den dünnen Armen, an denen man jeden Knochen sehen kann und den irgendwie kaum vorhandenen Körper – ist dir mal aufgefallen, dass du gar nicht da bist? Du existierst nicht, wenn du einen Raum betrittst – du hast dein ganzes Wesen in dich rein gedrückt, du hast deinen ganzen Körper in dich rein gedrückt – du gibst nichts von die nach Außen, gar nichts – du drückst alles in dich hinein und dann wuschelst du dir ein bisschen in den Haaren rum und senkst den Blick. Und jetzt kleidest du dich mit Erwartung, kommst ohne Einladung, sitzt auf meinem Bett und hast Erwartungen…ich hasse dich.

aus Kapitel 8
Ich strauchle noch

ver-haftet

Wie ist das mit Bedürfnissen? Ich strauchle noch. Manchmal stelle ich mir vor, es wäre so einfach – einfach neben Menschen liegen, vielleicht eine leichte Berührung – nur der Geruch und kurz durch die Haare streichen vielleicht, mehr nicht. Mein Blick liegt lange auf dem leicht Gekräuseltem über Scheitel. Ich sehe mich dann – eine kurze Bewegung, mehr nicht. Aber ich bleibe still sitzen, Hände in den Schoß gefaltet – ein wenig einfältig. So richtig wahr fühlt es sich erst an, wenn man es anfassen kann. Manchmal verwirrt mich an mir diese Bewegung – wofür braucht es die Berührung?Ich denke, jeder Mensch ist eine Grenze und vielleicht stellen wir uns vor – oder ich – vielleicht stelle ich mir vor, man könnte diese Grenzen einreißen, sich einreißen – sich in die Welt reißen – immer zwischen zu eilig und schnell weg laufen. Dann denke ich, wir sind die Generation, die immer alles verpasst – die sich für Ideale aufspart und an der Kreatur verbraucht. Und wir wägen lange ab: wer ist wann und wie auf welche Art und Weise geeignet. Sie läuft ein paar Schritte durch den Raum. Im nur spärlich bestückten Bücherregal, entdeckt sie einen kleinen Igel aus Glas. Ihr Finger deutet in seine Richtung: „Wie heißt der?“ An meinem Handgelenk zieht die Zeit lange Schliere – mein Blick fällt mehrmals auf das Ziffernblatt aber sehen kann ich nichts. Er spricht von irrationalen Grenzen – und wenn die Begründung einer Grenze irrational ist, dann kann man sie nicht ziehen. Ein etwas nervöses Gemüt. Sie stellt meinen Sitz hoch. Er bezahlt das Essen nicht. Als würde man das nicht merken. Manchmal stelle ich mir den Menschen als eine Schabe vor – ein wenig wie bei Kafka – aber jeder trägt seine eigene Schabe im Leib. Ich würde dann gerne meinen Körper einklappen, den ganzen Körper einklappen – sich einfach mal wie eine Ziehharmonika fühlen. Ich kann mich noch ein wenig daran erinnern, an diesen Moment – es war nur Euphorie – und ich dachte, es wäre schön, wenn ich mich auf den Begriff bringen könnte – auf Begriffe wie Melancholie oder Euphorie – aber wenn ich mich auf einen Begriff bringen müsste, wäre es wohl Angst. Und ich kann mich noch ein wenig an diesen Moment erinnern – auch im Garten, auch zwischen roten Sandsteinbauten – aber gibt es in dieser Stadt überhaupt andere Gebäude? Ich sehe nur Rot, wenn ich versuche, mich zu erinnern und deine dünnen, dunklen Haare und dein langer, schräger Körper – es war immer so still um uns, so still mit blauem Schimmer auf dem Gesicht und du erinnerst dich…ich saß auf dem Teppich gedrückt zwischen Bettkante und Regalboden – eingeklappt wie eine Katze mit zuckenden Augenliedern und wippenden Knien. Und du hast gesagt, ich bräuchte keine Angst haben, du würdest nicht lachen aber ein wenig gelächelt, hast du dann doch – aus den Augenwinkeln konnte ich es sehen. Heute sehe ich nur noch die Lichter und jedes Fahrzeug bewegt sich von mir weg. Ich sammle die Bilder wie Spielkarten – jedes einzelne, was auch immer mir zurück geworfen wird – irgendwann will ich daraus etwas bauen – irgendwo dort bin ich, ganz bestimmt. Ich erinnere mich an das wilde Haar in alle Richtungen geworfen, hinter ihm die Treppe rauf und schnell eingeatmet, um nie wieder auszuatmen – ein Gefühl zwischen Spannung und Anspannung – aber ein wenig gelächelt, hast du dann doch. Wie ist das jetzt mit den Bedürfnissen? Ich strauchle noch. Aber langsam gerät es in Vergessenheit – in mir geraten sie langsam in Vergessenheit. Ich kenne sie nicht mehr. Sie sind mir irgendwie entglitten, die kleinen Phantasien eines unerträglichen Kummers. In spiegelndem Glas sehe ich mich unwirklich, leicht verschwommen. Ein Schmerz mehr oder weniger, sagt sie und zuckt ein wenig mit der Schulter, spielt am Ende eines Lebens auch keine Rolle.

ver-haftet

langer regen

Ich erinnere mich nicht. Einer von Beiden war immer da – Norah oder Henry. Aber an vieles davon, kann ich mich kaum erinnern. Norah sagt, weil es mir nichts bedeutet hat. Wahrscheinlich hat sie recht. Aber Bedeutsamkeit verschwindet – sie ist nur im Moment. Norah lag in der Wiese…immer… vor dem Seminar im Innenhof – Sonne – sie liegt da, immer – mit dem Buch auf dem Bauch und geschossenen Augen zum Himmel und dann plötzlich durch die Stille ihre raue Stimme: „Weißt du, was ich glaube? Dinge passieren gar nicht chronologisch. Sie passieren dir erst wirklich, wenn sie in dir wirken.“ Norah sagt, ich trauere nicht. Aber sie sagt nichts. Sie sagt, ich trauere nicht, weil ich an meinem Exposé arbeite. Aber sie sagt nichts. Sie sagt gar nichts mehr. Nächte beginnen mit kaltem Schweiß. Ihr Körper saugt alles auf – in die Kautsch gedrückt und irgendwie leblos…streift durch die Wohnung, zwei Zimmer, Küche,Bad und schön Altbau mit hohen Decken und Flügeltür – das twittert sie dann, hängt mit dem Gesicht über dem Smartphone und es saugt sie ein. Aber sie sagt nichts. Ostern – vier Tage in der Wohnung – Karfreitag. Irgendwann gehen wir dann doch ins Museum aber da ist nichts, nichts in ihr – aber ich bleibe ruhig. Ich traure nicht. Die Arbeit zerfällt – Wir spielen gerne mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns. Sie und schweres Atmen und sie und immer schwerer werdend, es zieht, es zieht vom Boden und in die Kautsch gedrückt und sie und sie überall also verlasse ich das Haus, raus um sie, sie geht und Schritte schwer und dieses braune Kleid hat etwas vom Morgenmantel meiner Mutter und alles schwer, wenn ihre Schritte durch die Wohnung schleichen – also verlasse ich das Haus, versuche, laufe durch den Stadtteil, Häuserschluchten, keine Sonne, nichts. Norah liegt auf dem Rücken und die Wiese legt sich um ihren zarten Körper als wäre dazwischen immer noch ein Moment Nichts, mit dem Buch auf dem Bauch immer und durch die Stille ihre dunkle Stimme Worte und ich denke – du bist eine Woge. Sie redet vom Kugelmensch und von der Seele, unendliche Seele sagt sie und sie schwingt – Resonanzkörper und das Spiel der Erkenntniskräfte, sagt sie. Dann springt sie mit eine mal auf, läuft mit blanken Zehen über die Wiese aber sie ist eine Woge und ihr Körper bebt, gehe ich mit den Fingerspitzen dagegen und dann lächelt sie, schwingt ihre dünnen Arme um meinen Hals, greift mir ins Haar – sie schreibt: Aber im dunklen Intervall versöhnen// sich beide zitternd. // Und das Lied bleibt schön. Noch tänzelt sie über die Wiese, noch sanfte Schritte mit dem Buch auf dem Bauch und Blick in den Himmel. Mein Finger graben sie in die Erde, immer tiefer – zwischen mir und der Erde kein sanfter Schimmer aber sie berührt es und berührt doch nicht den Boden – mit beiden Füßen auf festem Grund fliegen – sagt sie dann. Ihre Finger malen die Seele in die Luft – ernste Einsamkeit – rezitiert sie, immer mit leichtem Schimmer auf den Lippen, mit oberer Zahnreihe über Unterlippen und schnell zuckenden Wimpern, immer leicht tippelnd oder mit wippendem Oberkörper. „Hörst du mir zu?“ fragt sie. „Wofür sonst braucht der Mensch die Kunst? Er braucht sie nicht – aber es passiert etwas, irgendwo – wenn man die Zeilen liest, mein ganzer Körper zittert – das ist die Seele und die Kunst ist für die Seele.“ Die Einsamkeit ist wie ein Regen – legt sie mir unters Kopfkissen und Wer jetzt weint irgendwo in der Welt, // ohne Grund weint in der Welt, // weint über mich.

aus Kapitel 11
langer regen

empathie (5/12)

Sie lacht. Nein. Sie grinst. Ich mag es, wenn sie grinst. Ich stelle mir ihr Grinsen vor, wenn ich ein paar nette Sachen tippe – dann grinst sie nur für mich. Sie tippt auch ein paar nette Sachen – nett ist scheiße, denke ich und wir sind alle Klischees – wir sind diese Klischees und immer wenn ich sage, alle Männer seien scheiße, schüttelt sie den Kopf. Nur diejenigen, die mir begegnen. Und wenn ich sage, alle Frauen seien kompliziert, wird sie richtig laut. Aber ich bin weich. Ich bin formbar. Ich stelle mir vor, wie das wäre – einfach das Geschlecht zu wechseln – nicht mehr über all die Dinge nach denken zu müssen. Vielleicht ist es nur in mir. Vielleicht ist es meine Angst, die sich langsam darüber legt – die jedes Wort anders verstehen will – gegen mich selbst gerichtet – darum geht es. Ich will Worte anders verstehen. Sie grinst. Easy peasy lemon squeezy und So quick bright things come to confusion. Mitten im Satz springe ich auf – möchte dem ganzen ein Bild geben aber nach ein paar Sekunden merke ich schon, dass mir kein pfiffiger Spruch einfällt. Also tue ich so, als wollte ich mir nur ein Glas Wasser holen – halb voll. Vor ein paar Stunden saß ich noch mit dem Italiener im Café – sein letzter Abend – davon wusste ich nichts und ich greife automatisch nach seiner Hand. Er ist verwirrt – er sagt, bei dem Wort Milchkaffee müsste er immer an mich denken. Nur bei dem Wort Milchkaffee. Manches leere Blatt stresst mich. Dieses hier. Manche Worte stressen mich – deine. Ich weiß nicht, was es ist – aber da ist etwas Distanziertes in die Worte gerutscht. Er hat die Hand schon lange los gelassen – oder ich. Sie grinst. Du kannst niemanden zwingen, dich schön zu finden. Sagt sie. Man kann nur dasein und schauen, was dann so passiert. Nichts. Nichts. Nichts. Man stellt sein Sein in den Raum und nichts passiert. Ich hasse es, wenn meine Gedanken so abstrakt sind. Keine Fühlung. Ich will nicht immer zu darauf warten – ich muss mich jetzt los machen. Ich muss vergessen. Es gab viele Momente, in denen es hätte passieren können – es ist nicht passiert…also lass los. Stell dich nicht in den Raum. Mach dich nicht wichtig. Ich bin nicht wichtig. Ich bin irgendwas…eine nette Ablenkung, ein Moment jemand anderes sein können – mehr nicht. Stell dich nicht in den Raum – mach dich nicht wichtig. Intensität heraus nehmen. Begegnungen stressen mich. Menschen stressen mich. Ich bin immer am rotieren – eigentlich sollte ich alleine sein – ich muss alleine sein, weil ich nicht mit anderen zusammen sein kann – weil sie mich stressen, weil ich mir immer Gedanken machen muss…weil mich einfache Worte fertig machen. Sie grinst. Sie weiß es nicht, aber sie tut es. Der Italiener erzählt mir von seinem Haus auf Sizilien – wir machen Witze, ich würde ihn besuchen kommen…alle drei Monate….für drei Monate. Man bringt sich immer nur selbst zum weinen, denke ich…und die Tränen sind also wertlos. Wenn er redet, spielen seine Lippen katzenartig und ich behaupte, der Kellner würde ihm gehören – er darf ihn haben. Und der Kellner sagt, meine Liebe…hier ist dein Milchkaffee, meine Liebe. Es gefällt mir, wie er von der Beziehung zwischen Autor und Figuren spricht – wie er von dem Verhältnis des Autors zu seinen Figuren spricht – als wären die Figuren kleine Liebesbeziehungen. Meine große Leistung besteht darin, aus allem einen Traum machen zu können – einen Traum oder einen Drogenrausch – am Ende bleiben die Figuren abstrakt, als hätte es sie nie gegeben. Du hast eben nur aus einem Moment gehandelt, der geprägt war durch verletzten Stolz, sagt er. Heute keinen Kuchen. Sie zuckt mit den Schultern, wenn dich ein Mensch traurig macht, dann geh einfach. In meiner Vorstellung fällt das Glas auf den Boden…viele Scherben aber kein Tropfen mehr und ich denke an die Libelle – an den letzten Versuch, dem kleinen toten Wesen zurück ins Leben zu verhelfen. Aber es gibt kein Zurück. Also da bin ich…ich…also ich…und egal, wie ich es anstelle, egal auf welche Art ich mich bewege…aber das ist kindisch. Da sind viele kindische Gedanken in meinem Kopf und sie grinst – du schüchterst andere eben ein. Sagt sie. Und der Italiener lacht, als ich ihm von den vielen geteilten Seelen erzähle, aus dem Film – als ich sage, selbst die Kugelmenschenseelen seien eben vielfach geteilt und so gäbe es viele…eben viele Menschen, die sich gegenseitig suchen. Er lacht – ein schöner Gedanke. Ein kindischer Gedanke. Ich kann nicht gehen, bei diesem durchdringenden Blick ein wenig über den Rand der Brille hinaus und es gibt kein Zurück. Ich habe verloren.

empathie (5/12)

…erzähl mir vom Morgen (4/12)

Ich drehe den Kopf. Ich sehe das Dach – einen Balkon irgendwo aber es ist verschwommenes Gelb gegen Braun und Weiß…ich bleibe noch einen Moment liegen – ich versuche die Schärfe auf den Fensterrahmen zu richten aber es funktioniert nicht. Nichts funktioniert ohne Brille. „Und du?“ – „Hm?“ er schaut auf. „Was siehst du morgens als erstes?“ ich stochere in meinem veganen Kuchenstück. Vegane Kuchen fallen immer irgendwie auseinander. Er zuckt kurz mit den Schultern. Später dann stehe ich vor dem Fenster – die Scheiben sind fleckig. Er sagt, er will sich nicht festlegen – in einem Leben passiert so viel. Und Beziehungen entwickeln sich um die Menschen herum. Ich stochere in den Kuchenbrocken. Er schaut kurz auf. „Du bist ganz schön kompliziert.“ sagt er. Das Mädchen mit den kurzen Haaren ist ganz schön kompliziert – denke ich. Das Mädchen mit den kurzen Haaren schaut zurück auf die Flecken. „Wir teilen nichts – verstehst du? Wir teilen nichts – wir teilen weder Wahrnehmung noch Kommunikation – wir gehen immer nur aneinander vorbei – wir sind ins Sein geworfene, aneinander passierende Subjekte.“ Uns er meint alle. Kuchen zum Frühstück, denke ich, veganer Kuchen zum Frühstück passiert auch einfach so und trockene Krümel an meinen Fingern. „Man verliebt sich so schnell in vermeintliche Gemeinsamkeiten – aber eigentlich haben wir nichts gemeinsam – wir suchen nur danach und hören letztlich nicht genug zu. Ich verliebe mich nicht.“ Ich blicke auf. Jeder liebt wir er liebt, denke ich. Mein Herz knackt – Diotima kommt mir in den Sinn. Aber wir begreifen es nicht. Wir sprechen von Wissen – aber nein, wenn man wirklich etwas weiß, ändert sich dann nicht auch – alles andere. „Die ganze Menschheit basiert auf einem naturalistischen Fehlschluss.“ und die Krümel an den Fingern…man sucht nach der Verbindung – nach dem Verbundenen – nach allem. Man greift nach kleinen Strohhalmen. Man greift und hält sich fest – in die Haare greifen, sich festhalten. Und die Verbindung ist noch ein letzter Griff in Locken – Erinnerung. Nein. Nein…nein. „Vielleicht verliebt man sich auch in das, was der andere in einem auslöst.“ wollte ich sagen mit trockenen Brocken im Hals – mit alten Krümeln an den Fingern – mit Flecken auf der Scheibe, Verschwommenes. Ich ziehe die Zehen zusammen. Ich schaue dich an. Wenn man in dem Anderen sich selbst nicht mehr sehen muss, denke ich – wenn man den Anderen ohne sich sehen kann – durch sich aber…Flecken…Glas. Aber so wirklich, ist nichts passiert. Berlin. 

…erzähl mir vom Morgen (4/12)