Glückskekse

Das Herz schlägt noch. Aber sonst nichts. Ich spüre da nichts mehr – ich hebe den Arm in die Luft aber da ist nichts – ich sehe ihn: Ja, das ist mein Arm, mein rechter Arm – es kann nur meiner sein, alles andere wäre unlogisch aber ich spüre nichts, da wo mein Arm sein müsste, da ist nichts ja, ja das ist mein Körper, das kann nur mein Körper sein aber da, da wo mein Körper sein müsste, da ist nichts. Ich schaue an mir herunter – da ist nichts. Natürlich sehe ich alles – es ist schlecht zu übersehen. Ich spüre es nur nicht. Ich spüre meine Körper nicht mehr. Ich muss aufhören, Glückskekse zu essen – das macht mich einfach nicht glücklich. Ich muss aufhören, diese Zettel zu sammeln – sie wiederholen sich nach einem relativ kurzen Intervall. Ich hatte mit einem längeren Intervall gerechnet. Ich dachte, es müssten mind. fünfzig verschiedene Texte sein – auf fünfzig unterschiedliche Glückskekstexte kann man schon kommen, in der Glückskekstextefabrik. Das ist eine erwartbare Leistung des menschlichen Verstandes. Ich glaube, es sind nur so zwanzig. Zwanzig Ratschläge. Ich habe sie nicht gezählt. Aber es ist eine überschaubare Menge. Mir kommt der Text zwar bekannt vor, aber ich schmeiß den kleinen Zettel dann trotzdem in die Schachtel zu den Handschriften. Ich mache das jetzt nicht mehr. Ich schmeiß die Zettel lieber gleich weg. Ich kaufe mir auch keine Glückskekse mehr – es gibt sie in so Großpacks: Zwanzig, fünfzig, hundert Stück und mit steigender Menge sinkt der Einzelpreis. Das ist verlockend. Aber wenn mich in hundert Glückskeksen nur zwanzig verschiedene Ratschläge erwarten, kann ich mir auch nur zwanzig kaufen oder gar keine – weil ich jetzt schon jeden Ratschlag kenne. Es gibt keinen Zettel, der jetzt hilfreich wäre – z.B. Träume nicht von Lähmung, lähme deine Träume oder Verliere nicht dein Lebensgefühl, alles wird Gut … in einem stand nur Alles Gute und ich habe mir vorgestellt, ich saß gar nicht auf der Couch, als ich diesen Glückskeks aß – ich stand auf einem Hochhaus – auf einem der hässlichen am Potsdamerplatz und ich habe mein Leben von diesem Glückskeks abhängig gemacht – wenn er mir irgendeine Form von Hoffnung geben kann, springe ich nicht – das ist der Deal. Und dann öffne ich den Keks und auf dem Zettel steht: Alles Gute. Todesurteil. Okay. Das war der Deal. Wie viele sich schon der Glückskekse wegen umgebracht haben – wie viele wohl schon solche Deals eingegangen waren – wie viele schon von den Glückskeksen so ein letztes Zeichen ihrer eigenen Sinnhaftigkeit erwartet haben – und dann stand da: Alles Gute. Und was denkt der Glückskekstextschreiber – dachte er, das sei ein netter Ratschlag. Es ist doch nett seinen Lesern Alles Gute zu wünschen – das freut doch jeden, dachte er sich. Aber er hat nicht mit den Hochhausspringern gerechnet. Niemand rechnet mit den Hochhausspringern. Niemand der Ich verstehe dich sagt, rechnet mit den Hochhausspringern. Niemand der Ich werde immer für dich da sein sagt, rechnet mit den Hochhausspringern. Niemand der Du wirst immer ein wichtiger Mensch für mich sein sagt, rechnet mit den Hochhausspringern. Damit rechnet man einfach nicht – sie werden nicht einkalkuliert. Sie existieren ja dann auch nicht mehr – also wahrscheinlich ist es egal. Eingeflossen in die Rechnung sind von Anfang an nur die Menschen, die dann unterm Strich auch noch da sind – die dann weiterhin die Glückskekse kaufen im Zwanziger-, Fünfziger- und Hunderterpack – denen nicht auffällt, dass sich die Sprüche wiederholen und dass das Intervall wirklich sehr kurz ist. Niemand rechnet mit den Menschen, die dann nicht mehr da sind – die man halt nicht verstanden hat. Es hat auch niemand damit gerechnet, dass ich wirklich springen würde. Auch jetzt – du hast auch nicht damit gerechnet – ich würde dir jetzt gerne einen Glückskeks reichen – so ein kleine, banale Weisheit zur Aufheiterung. Sorry. Ich habe keine mehr – ich habe aufgehört, die Zettel zu sammeln. Ich habe keine Großpackung mehr gekauft. Alles Gute, hat der Keks gesagt, Alles Gute. Das Herz schlägt noch. Aber sonst nichts.

Glückskekse

3 Gedanken zu “Glückskekse

  1. Wenn ich deine Texte lese, hoffe ich ja immer … was eigentlich? Dass es dir in Wirklichkeit anders geht, besser, nicht so perspektivelos halt.
    Andererseits: Könntest du so schreiben, wenn du sie nicht kennen würdest, diese Abgründe?
    Wie auch immer und immer wieder: Ein krasser Text, ein echt guter Text ist das.

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar