Ich verstehe ihn nicht

Ich verstehe ihn nicht. Er schaut mich schon wieder so an. Als wäre ich jemals hereingekommen und hätte sofort angefangen, irgendwas zu erzählen. Über mein Leben. Das sind alles nur Klischees. „Das sind alles nur Klischees.“ Ich hasse seinen Blick und wenn er ihn nicht mit irgendeinem Laut untermalt. Wenn er den Mund nicht aufmacht. Er schaut mich nur an. Was ist das. Was ist das in seinem Blick. Was ist in seinem Kopf, während er mich so anschaut. Schaut er mir wirklich in die Augen. Ich schaue nie in die Augen. Wenn man auf die Nasenspitze schaut und die Nasenspitze ist etwas sehr Neutrales, höchstens irgendwie Lächerliches – also letztlich nur so ein Punkt, der manchmal ein bisschen glänzt aber nicht wirklich im Stande ist, etwas über einen Menschen zu erzählen – wenn man seinen Blick konzentriert auf die Nasenspitze richtet, hat der Andere den Eindruck, man würde ihm intensiv in die Augen schauen und ich schaue nie intensiv in die Augen – das ist mir viel zu viel, das ist mir viel zu viel Mensch aber ich mag das Gefühl, der Andere hätte den Eindruck, ich würde mich auf dieses viel zu viel einlassen und ihm intensiv in die Augen schauen. Das verunsichert die meisten, führt aber auch dazu, dass sie mich für meine Aufmerksamkeit und Intensität schätzen und sich selbst dafür schämen, sich auf mein viel zu viel nicht in gleicher Weiße einlassen zu können. Also schaut er mir in die Augen oder kennt er diesen Trick mit der Nasenspitze. Und was denkt er. Ich meine, was ist hinter diesem Blick. In welche Schublade steckt er mich – kleines, weißes, privilegiertes Mädchen, hör auf rum zu heulen mit deinen lächerlichen Problemen – es gibt Menschen mit echten Problemen und du verschwendest hier nur meine Zeit. Er schaut mich immer noch an. Okay. Dann schau mich halt an. Ich lache. Er kippt den Kopf leicht nach links, ohne den Blick von mir zu lösen. „Klischees?“ – „Ja, Klischees.“ Wieder Stille. Dieser Blick. Was willst du. Ich meine, was soll ich jetzt erzählen. Ich kann genau sehen, wie er ein Gähnen unterdrückt, so nach hinten schiebt, in den hinteren Bereich des Kiefers – du kannst ruhig aktiv gähnen, ich finde diese Stille auch langweilig. Vielleicht denkt er an seinen Einkauf oder seine Freundin – er trägt keinen Ehering. Wahrscheinlich hat er ein großes Bücherregal und eine Freundin, sie ist blond – alle Frauen sind blond. Sind sie glücklich. Er denkt an seine Freundin und gähnt. Er macht sich keine Notizen, nichts. Merkt er sich alles, worüber ich spreche – ich meine, diese Stille ist einfach zu merken aber macht er sich nur bei mir keine Notizen oder auch bei allen anderen nicht. Gibt es andere, die mehr reden als ich oder noch weniger – gibt es Menschen, die gar nicht reden. Und kann er sich all das merken. Ist all das dann in seinem Kopf und was macht das mit ihm. Wie lebt er – zwei Zimmer, Küche, Bad, Altbau. Lebt er mit seiner Freundin zusammen. Was macht er in seiner Freizeit. Schaut er sich YouTube Videos an. Hat er einen Twitteraccount. Schreibt er seine Gedanken auf. Liest er morgens Zeitung. Interessiert er sich für Politik. Kauf er bei Lidl ein oder doch eher Edeka. Mag er gutes Essen. Kann er kochen. Schaut er sich Serien an und hängt er manchmal einen ganzen Tag nur vor dem Computer rum. Sammelt er irgendwas, z.B. so Keramikkätzchen – oder besser so Keramikköpfe von Philosophen und hat er schon viele, sammelt er die schon lange. Liest er einen Text von Anfang bis Ende oder skipt er. Geht er ins Kino. Mag er salziges oder süßes Popcorn. Lädt er seine Freundin zum Essen ein oder machen sie immer getrennte Kasse. Ist er eher ein Morgenmensch oder Nachtmensch. Trinkt er nach dem Aufstehen Kaffee. Duscht er morgens oder abends. Kauft er Bücher bei Amazon oder geht er in die Buchhandlung. Hört er Musik. Was für Pornos schaut er sich an. Wie oft holt er sich einen runter. Ist er sexuell erfüllt. Ist er sportlich. Geht er gerne ins Café. Hat er Freunde. Was unternehmen sie. Fährt er gerne in den Urlaub. Macht er morgens sein Bett. Ist er zufrieden. Worüber denkt er nach, wenn er alleine ist. Was beschäftigt ihn. Hat er ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Leben seine Eltern noch. Will er Kinder. Trinkt er Alkohol. Nimmt er Drogen. War er schon Mal so breit, dass er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte, was passiert ist. Ist er schon mal neben einer fremden Frau aufgewacht. Ist er aktiv oder passiv. Ist er ein guter Schauspieler. Erzählt er gerne Geschichten. Ist er einsam. Wie lautet seine Mailboxansage. Würde er jetzt gerne auf sein Handy schauen. Ist er ein verlässlicher Mensch, ein treuer Mensch, ein loyaler Mensch. Lügt er. Hat er schon mal geklaut oder jemanden geschlagen, eine Frau bedrängt. Hinterzieht er seine Steuer. Sucht er gerne Streit oder hält er sich aus allem raus. Was interessiert ihn an seinem Job. Ist er gerne Draußen. Hat er viel Geld. Ist Geld ihm wichtig. Versteht er sich selbst. Ist er gesprächig. Kann er gut zuhören. Braucht er Kicks. Spielt er Schach. Mag er Herausforderungen. Ist er auf der Suche. Würde er zuhause bei den Kindern bleiben. Hält er sich für etwas Besonderes. Ist er in einem Dorf oder in einer Stadt aufgewachsen. Mag er Berlin. In welchem Stadtteil wohnt er. Schaut er gerne in Fenster. Beobachtet er Menschen. Was ist das beste Buch, was er jemals gelesen hat – oder der beste Film, den er je gesehen hat. Weint er. Ist er traurig. Was zieht ihn runter. Läuft er in seiner Wohnung nackt herum. Mag er seinen Körper. Denkt er darüber nach, was er anzieht. Ist er eher ein Hunde- oder Katzenmensch. Ist er Vegetarier oder sogar Veganer. Verurteilt er Menschen, die Fleisch essen. Mag er Tiere. Hatte er mal ein Haustier. Was ist seine Lieblingsfarbe. Steht er in einer Gruppe gerne im Mittelpunkt. Hat er gerne das Wort. Ist er zurückhaltend. Ist er melancholisch, nachdenklich, depressiv. Ist er introvertiert. Bleibt er abends gerne zu Hause. Freut er sich auf sein Zuhause. Erträgt er Stille. Hat bei ihm jedes Ding einen Platz. Ist er vergesslich. Hat er einen guten Orientierungssinn. Pinkelt er im Stehen. Geht er gerne ins Museum. Trinkt er jeden Abend ein Glas Rotwein. Postet er Selfies. Hält er Selfies für narzisstische Selbstüberschätzung. Findet er sich selbst schön. Wie bindet er sich die Schuhe. Waren seine Eltern streng. Fährt er an Weihnachten nach Hause. Hat er Geschwister. Ruft er seine Mutter regelmäßig an. Fehlt ihm etwas. Wohin tut er die Schlüssel, wenn er nach Hause kommt. Was frühstückt er. Wenn er sich jetzt ganz frei entscheiden könnte, wo wäre er dann am liebsten, wie würde sein Leben aussehen. Telefoniert er gerne. Kann er zeichnen. Schreibt er gerne Postkarten. Macht er gerne Geschenke. Kann er sich die Geburtsdaten seiner Freunde merken. Auf welche Art gratuliert er. Geht er gerne auf Hochzeiten oder Familienfeiern. Hat er bei Horrorfilmen Angst. Welche Art von Möbel mag er. Hat er jemals den Mann ohne Eigenschaften fertig gelesen. Was ist seine Lieblingsfarbe. Ist er gerne in der Natur. Mag er Sonnenuntergänge oder den Blick ins Tal oder das Meer. Mag er das Meer. Mag er den Geruch von Strand und Algen und ist er lieber an der Nordsee oder am Mittelmeer. Schreibt er gerne auf blanken Papier oder doch lieber liniert. Mag er Sonntage. Ist er religiös. An was glaubt er. Welchen Song kann er auswendig. Mag er Gedichte. Zu welcher Jugendbewegung gehörte er. Hatte er gute Noten. Wann hatte er seine erste Freundin. Ist er reserviert. Verliert er sich gerne im Rausch. Wovor hat er Angst. Ich meine, wovor hat er Angst. Wie kann ich all das nicht von ihm wissen. Wie kann ich mit ihm reden, wenn ich all das nicht von ihm weiß. Wie kann ich all das von mir erzählen, ohne zu wissen, wer er ist und was er denkt. Wir kann ich überhaupt all das – . Es ist still. „Klischees?“ – „Ja, Klischees. Ist das nicht auch so ein Klischee – hier zu sein, Sie schauen mich so an – Sie schauen mich auch an wie so ein Klischee.“

Ich verstehe ihn nicht

8 Gedanken zu “Ich verstehe ihn nicht

  1. noleni schreibt:

    Hmm, gefällt mir. Hab ’ne Idee, was das für eine Situation sein könnte…
    Nur, warum Du davon ausgehst, dass er hetero ist, das fand ich komisch.
    Sonst ein schöner Text.

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  2. Sehr schön. Nein, sogar kräftig und wirkungsvoll. Jeden falls wirkte es auf mich stark. Ich dachte, was weiß ich schon?! Die Fragen könnten so viele sein wie Sterne am Himmel. Ich glaube, vor zwei oder drie Jahren gab es bei Kain & Aber ein büchlein, das enthielt nur Konversationsfragen vom Typus „Was ist deine Lieblingsauto?“. (Ach, hier ist es: https://keinundaber.ch/de/literary-work/fragebuch/ )
    Die Naivität ist, das Fragen nicht unbedingt zu Wissen führen, sondern auch Unwissen hinterlassen, gerade wenn sie an einen selbst gerichtet sind. Das Selbstwissen ist ja das unsicherste Wissen überhaupt. Weswegen man immer irgendetwas antwortet, aber man selbst weiß nicht, ob man sagt, was man weiß, oder sagt, was man geltend machen möchte. Oder im Ton der Wahrheit sich über sich selbst täuscht. Alles Nebelgebiet.
    Übrigens: Ein sicheres Mittel für ein schlechtes erstes Gespräch ist in konfrontativer Position, Face-to-face, Auge-in Auge. Nebeneinander ist sofort gelungener, am besten im mittleren Tempo nebeneinander gehen. Autofahren isoliert seltsamerweise am stärksten, da sitzen dann oft zwei Schneckengehäuse nebeneinander.

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  3. Ich denke noch immer über diesen Text nach. Auch ich kann mir die Situation nicht nur vorstellen, nein, sie kommt mir sogar sehr bekannt vor: Ich habe in ebendieser Situation ebendieses Thema schon einmal angesprochen.

    Faszinierend ist, dass die Fragen so viel mehr über die Fragenstellerin aussagen, als die Antworten über das Gegenüber jemals preisgeben könnten. Und ich mag die Fragenstellerin nun noch lieber.

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