Allein gehe ich

Allein gehe ich ins Kino, ohne ein Ticket gekauft zu haben. Auf den nächsten Film muss ich zwei Stunden warten – daher setze ich mich ins Fenster des Kinos und beobachte Passanten. Der französische Film aus den 40ern erzählt die Geschichte von Christine, gefangen in ihren Erinnerungen an eine längst vergangene Liebe und dem Möglichkeitsraum aller falschen Entscheidungen. Während ich versuche, der Handlung des Films zu folgen, schweifen meine Gedanken ab, mein Kopf bleibt mehr bei mir, als Christine in die Vergänglichkeit des Augenblicks zu folgen. Ich starre zwar auf die Leinwand, vor meinem inneren Augen jedoch läuft ein anderer Film und von mir weitestgehend unbemerkt fließen Tränen meine Wange hinab.

Wie zu erwarten sitzt ein hübscher Mann zwei Sitze weiter und bemerkt meine Traurigkeit. Ohne eine Frage zu stellen, sucht er in seinem Beutel nach Taschentüchern und reicht mir eines. Das ist nett. Vielleicht. Als der Film vorbei ist, fragt er, ob alles okay sei. Ich nicke. Er fragt, ob mir der Film gefallen habe. Ich muss zugeben, dass ich der Handlung kaum folgen konnte. Dann fragt er, ob wir an der Kinobar noch … und so weiter jajaja, wir trinken Kaffee, also ich Kaffee, er ein Bier, es ist natürlich okay für mich aber etwas irritiert mich, erst als wir im hellen Scheinwerferlicht der Kinobar stehen, fällt mir auf, dass sein Gesicht kaum Farbe hat, nein, es ist sehr bleich und seine Kleider, nun zwar verfügen sie über zahlreiche Schattierungen aber letztlich sind sie grau bis schwarz. Ich frage ihn, ob das nur mein Eindruck ist oder … aber er winkt direkt ab, schnappt sich meine Hand und zieht mich rennend aus dem Kino; SIEHST DU DAS, schreit er und zeigt mit seinem linken Zeigefinger über den Eingang des Kinos. Da steht in großen Lettern Ein Fenster in Sarahs Herzen. Ich schaue an meinem Körper herab und da ist tatsächlich ein Fenster auf der Höhe meiner Brust, welche gängig als die Stelle beschrieben wird, unter welcher das Herz angesiedelt ist, also unter dem Brustbogen, unter den Knochen und zwischen den Lungenflügeln, pulsierend, ein Fenster, ja und es steht sogar offen aber da es mir schwerfällt, in dieser Perspektive mit dem eigenen Kopf in die eigene Brust zu schauen, bitte ich den netten Mann mit dem Taschentuch, einen Blick hineinzuwerfen und mir mitzuteilen, was ihn dort erwartet aber er schüttelt vehement den Kopf – schau doch, sagt er, es ist verschlossen, siehst du das nicht? Nein nein, ich sehe doch ganz genau, dass es offen ist, versichere ich ihm, ich kann doch den Rahmen des Fensters sehen und die Klinke, die wundersamerweise im Inneren liegt; daher wundert es mich, dass es überhaupt so weit offen steht. Meine Neugierde ist so groß, dass ich den netten Taschentuchmann einfach stehen lasse, um im Kino den Waschraum aufzusuchen. Kurz hinter dem Eingang werde ich von einem Kinomitarbeit aufgehalten; ich müsse mir zuerst ein Ticket kaufen. Hier schauen Sie, sage ich und zeige ihm meine Karte, ich war schon drin. Nein nein, sagt er, das Datum auf dem Ticket sei gestern, das zähle nicht, die nächste Vorstellung sei in zwei Stunden, dann könne ich rein. Na gut, sage ich und setze mich zum Warten ins Fenster, beobachte Passanten.

Allein gehe ich

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